Neue digitale und dezentrale Wirtschaft braucht akademische Validierung

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Wir sind an einem entscheidenden Moment in der Entwicklung der neuen digitalen Wirtschaft. Das Interesse an allem, was mit Krypto zu tun hat, wächst exponentiell. Auch die großen Investitionen folgen dicht darauf. Es ist wohl noch nie so viel Geld in eine Produktklasse geflossen, die von der Allgemeinheit als auch von den meisten Investoren so wenig verstanden wurde. Statt die Hintergründe tatsächlich zu verstehen müssen die Akteure im Kryptobereich sich auf den Ruf und das allgemeine Vertrauen verlassen. Daraus ist ein gefährlicher neuer Betrug entstanden. 

Im Gegensatz zu den ganz klaren Betrügereien wie bei OneCoin oder Bitconnect nutzen Blockchain-Opportunisten und Hochstapler oft eine gefälschte Wissenschaft. „Lesen Sie unser Whitepaper hier“, „Schauen Sie sich diesen Forschungsbericht an, den wir auf arXiv hochgeladen haben“, „Laden Sie unseren Datensatz herunter“. Das klingt alles ganz legitim, oder nicht? Es fehlt nur ein entscheidendes Element: Eine akademische Validierung.

Nicht alle Papiere sind gleich

Jeder kann ein „Whitepaper“ erstellen und zum Download anbieten. Im Jahr 2018 erteilte die US-Wertpapieraufsicht SEC leichtgläubigen Krypto-Investoren eine wertvolle Lektion. Sie lancierte ein gefälschtes Initial Coin Offering für den fiktiven „HoweyCoin“, das ein weißes Papier als Zeichen der Vertrauenswürdigkeit hervorhob. Im Gegensatz dazu kann nur ein ausgebildeter Forscher, am besten noch mit einem Doktortitel und umfangreichem Wissen auf dem Gebiet, eine Arbeit in einer von Experten begutachteten Zeitschrift veröffentlichen lassen. Das ist der Goldstandard, den die Distributed-Ledger-Technologie (DLT) anstreben sollte.

Sie würden sich ja auch keinen Impfstoff injizieren lassen, der von Studienabbrechern entwickelt wurde, die ihre Arbeit nicht von Experten aus der Biochemie und Immunologie überprüfen lassen. Warum sollten Sie also Ihr Geld, Ihre persönlichen Daten und Ihre automatisierten Geräte in DLT-Lösungen stecken, die nicht gründlich geprüft wurden?

Akademische Validierung beginnt mit einer Experten-Begutachtung

Ein Peer-Review, also eine Experten-Begutachtung, ist ein wichtiger Aspekt der akademischen Validierung. Dabei überprüfen Experten auf einem wissenschaftlichen Gebiet die Forschungsergebnisse der anderen vor und nach der Veröffentlichung auf Fehler und Inkonsistenzen. Einerseits ist das Peer-Review-Verfahren ein entscheidender Schritt bei der wissenschaftlichen Publikation und erhöht die Transparenz, die Zuverlässigkeit und das Vertrauen. Um eine unabhängige Validierung zu ermöglichen, lassen die Autoren ihre Daten, Methoden und Ergebnisse zunächst von anonymen Experten fachlich prüfen. Andererseits kann eine Forschungsarbeit, sobald sie die erste Überprüfung bestanden hat und veröffentlicht wird, jederzeit überarbeitet, revidiert oder sogar zurückgezogen werden, wenn neue Informationen aus der wissenschaftlichen Gemeinschaft hinzukommen. Akademische Validierung ist also ein immerwährender Prozess.

Die Arbeit innerhalb eines Peer-Review- und akademischen Validierungssystems gewährleistet fortlaufende Innovation und Wissensschöpfung. Gute wissenschaftliche Publikationen reihen ihre einzigartigen Beiträge neben frühere Leistungen ein. Sie überprüfen systematisch, was bereits getan wurde, bauen darauf auf und weisen den Weg für zukünftige Innovationen. Pseudowissenschaftliche Publikationen hingegen erfinden das Rad oft neu und versehen es zur Sicherheit mit ein paar Ecken und Kanten.

Nicht zuletzt umfasst ein Peer Review einen Kodex im Hinblick auf akademische Integrität Verhalten. In der Popkultur haben viele Superschurken einen Hochschulabschluss. Im wirklichen Leben sind die allermeisten Akademiker wohlmeinende, sehr ethische Menschen, deren Handeln vom Streben nach Fakten und Wissen geleitet wird. Das akademische Validierungssystem ist zwar auch nicht immer vor menschlichen Fehler oder moralischen Ausrutschern gefeit, doch wir können sagen, dass es weitgehend gelungen ist, die wissenschaftliche Entwicklung auf dem rechtschaffenen Weg zu halten. Diese Beobachtung gilt auch für viele Branchenableger, etwa im Biotech-Bereich.

Biotech: Aushängeschild für Peer-Review-Verfahren in der Branche

Eine Branche, in der das Peer-Review-Verfahren seit langem erfolgreich integriert und weithin akzeptiert ist, ist die Biotechnologie. Kürzliche Aufsteiger wie BioNTech und Triumvira Immunologics publizieren regelmäßig in Top-Journalen und stellen sich dem akribischen Peer-Review. Andernfalls würde sich niemand darauf einlassen. Die Branche hat ihre Lektion nach mehreren spektakulären Fällen von Pseudowissenschaft gelernt. Das größte Beispiel dafür ist wohl Theranos.

Zwischen der Gründung im Jahr 2003 und der Zwangsschließung im Jahr 2018 verdiente das Bluttest-Biotech-Einhorn Theranos rund 700 Mio. US-Dollar. Die Chefin des Unternehmens Elizabeth Holmes und der Betreibsleiter Ramesh „Sunny“ Balwani haben die Investoren mit ihrem Charme und Gerede über Technologien eingewickelt, die ihre Firma nie wirklich entwickelt hat. Die beiden Bluttestgeräte, die Theranos auf den Markt gebracht hat, nämlich das Edison und das miniLab, wurden offensichtlich nicht von Experten begutachtet.

Schließlich wurde der Druck seitens von Investoren, Forschern und den Medien immer größer, diese Arbeit validieren zu lassen. Irgendwann war dieser auch zu groß, um ihn zu ignorieren. Nach einer unabhängigen, wissenschaftlichen Prüfung erwies sich das Edison als praktisch unbrauchbares Diagnosewerkzeug. Theranos hat das miniLab nach diesem Skandal nicht einmal einer unabhängigen Untersuchung unterzogen. Bald darauf haben sich Partner und Investoren aufgelehnt. Die Top-Führungskräfte des Unternehmens wurden nun von der SEC wegen eines, wie die Behörde es nannte, ausgeklügelten Betruges im großen Stil, verklagt.

Die gesamte Biotech-Industrie hat aus dem Theranos-Debakel gelernt, wie viel Peer-Reviews und die damit verbundene Transparenz sowie das Vertrauen wert sind. In einem Bereich, der so komplex und hochtechnologisch ist, dass er nur von wenigen wirklich verstanden wird, ist das Peer-Review-System heute ein allgemein anerkannter Wächter. Damit werden Leute, wie Elizabeth Holmes und Ramesh Balwani ausgemerzt und es wird dafür gesorgt, dass Innovationen nachvollziehbar bleiben.

„Dr.“ und „DLT“ sollen zusammengehören

Warum also verlässt sich der Blockchain-Bereich nicht viel stärker auf ein Peer-Review? Lediglich eine viel zu kleine Gruppe unter den großen Akteuren in diesem Bereich bemüht sich darum, ihre Innovationen akademisch zu veröffentlichen. In diesem Bereich gab es bereits auch einige Betrügereien in der Größenordnung von Theranos. Statt verifizierter Fakten ist ein Gewinnversprechen der größte Anreiz für Investitionen. Das ist schlecht und potenziell gefährlich.

In diesem Zusammenhang: Sind Sie darauf reingefallen? 13 ICO-Betrügereien, die Tausende Leute getäuscht haben

Vielleicht ist die Faszination der Tech-Branche für Studienabbrecher, wie Steve Jobs, Steve Wozniak, Bill Gates und Jack Dorsey eine Erklärung dafür. Doch jedem innovativen „Schulabbrecher-Unternehmer“ gingen unzählige Experten in Laborkitteln und dicken Brillengläsern voraus. Man sollte sich vor Augen halten, dass im Jahr 2017 30 Prozent der Entwickler von Google einen Doktortitel hatten. Auch bei Apple, Microsoft, Facebook und Twitter waren Hochschulabsolventen in der Mehrheit.

Wir bauen hier eine völlig neue digitale Wirtschaft auf. Unser heutiges System wäre ohne solide akademische Prozesse, wo das Wissen die Hauptsache ist, nicht denkbar. Man denke an die Beiträge von John Hicks und Kenneth Arrow zur ökonomischen Gleichgewichtstheorie, an die Analysen der Handelstheorie von Paul Krugman oder die Erkenntnisse von Ronald Coase zu Transaktionskosten und Eigentumsrechten. Das sind nur einige wenige unter den Nobelpreisträgern und vielen, vielen weiteren Spitzenforschern, deren gemeinsame Bemühungen das globale Wirtschaftssystem, wie wir es heute kennen, geprägt haben. Die neue digitale Wirtschaft verdient und erfordert sogar das gleiche Maß an akademischer Strenge.

Die Krypto-Revolution wird von „Rockstars“ vorangetrieben, Visionären, denen oft ein akademischer Hintergrund fehlt. Ihre Ideen von Dezentralisierung und Offenheit sind erfrischend anti-systemisch und optimistisch. Doch diese Visionen sind nur möglich dank der Arbeit von Generationen von Wissenschaftlern, die schon vor Jahrzehnten die Grundlagen der heutigen Krypto-Protokolle gelegt haben und sie bis heute noch weiterentwickeln. Die Krypto-Revolution ist das Produkt von Träumen und Ideologien einerseits und von Peer-Review-Forschung und Entwicklung andererseits.

Die Ansichten, Gedanken und Meinungen, die hier geäußert werden, sind allein die des Autors und spiegeln nicht unbedingt die Ansichten und Meinungen von Cointelegraph wider.

Serguei Popov promovierte im Jahr 1997 in Mathematik an der Staatlichen Universität Moskau und hatte Forschungs- und Lehraufträge an der Universität von Sao Paulo und der Universität von Campinas. Derzeit ist er leitender Forscher an der Universität von Porto. Sein Interesse an Krypto kam im Jahr 2013 auf, als er seine Kenntnisse in allgemeiner Mathematik, Wahrscheinlichkeit und stochastischen Prozessen allmählich auf die Distributed-Ledger-Technologie anwendete. Er ist Mitbegründer der Iota Foundation und Mitglied des Vorstands.

Die hier geäußerten Meinungen sind die des Autors und spiegeln nicht notwendigerweise die Ansichten der Universität oder der mit ihr in Verbindung stehenden Unternehmen wider.

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